Donnerstag, 10. Oktober 2013

Rezension zu „Der Himmel über Greene Harbor“ von Nick Dybek

Der Himmel über Greene Harbor
Ein kraftvolles Romandebüt über die Loyalität eines Sohnes zu seinem Vater und der Frage, wann und wie man die Entscheidungen seiner Eltern hinterfragt

(sl). „Loyalty Island – das war der Gestank von Hering, Lackfarbe und fauligem Seetang an den Anlegestellen und auf Stränden“. Aber Cal Bollings liebt das Leben auf der Insel ebenso wie sein Vater Henry. Cals Vater ist Krabbenfischer in der Beringsee und während der Wintermonate in Alaska auf Fischfang. Seine Mutter, aus dem sonnigen Kalifornien stammend, zieht sich in diesen Monaten der Abwesenheit in ihr Kellerstudio zurück, was für Cal ebenso zur Normalität gehört, wie die Tatsache, dass John Gaunt, Besitzer der Fangflotte, bei der auch Cals Vater beschäftigt ist, seine Mutter regelmäßig besucht und sie gemeinsam im Keller Musik hören.

Doch im Sommer 1986 gerät Cals beschauliches Leben aus den Fugen: John Gaunt stirbt völlig unerwartet und hinterlässt seinem einzigen Sohn Richard, einem zynischen Außenseiter, das gewaltige Erbe, von dem die Existenz einer ganzen Insel abhängt. Doch Richard, der noch nie einen Fuß auf einen Krabbenkutter gesetzt hat, lässt die Flotte erstmal an Land und droht den Fischern damit, das ganze Unternehmen an Japaner zu verkaufen… Henry Bollings weiß, dass er gegen den drohenden Verkauf der Fangflotte etwas unternehmen muss. Die zunehmenden Existenzängste lassen die unterschwelligen Konflikte zwischen Cals Eltern aufbrechen, die so weit eskalieren, dass Cals Mutter, schwanger mit dem zweiten Kind, die Familie verlässt, um zu ihrer alten Freundin nach Santa Cruz zu ziehen.

Eines Abends belauscht Cal im Haus seiner Eltern ein Gespräch seines Vaters, der gemeinsam mit seinen Kollegen Sam und Don verzweifelt nach einer Lösung sucht, um Richard Gaunt davon zu überzeugen, die Fangflotte weiterzuführen und damit die Insel am Leben zu erhalten. Aber am Ende des Abends scheint es nur eine Lösung zu geben – Richard Gaunt für immer zu beseitigen… Doch dann läuft die Fangflotte plötzlich aus, mit Richard an Bord, um ihm den Krabbenfang schmackhaft zu machen. Cal wird von seinem Vater zu Betty North und ihrem Sohn Jamie gebracht, dessen Vater Sam ebenfalls mit Henry Bollings in See sticht. Nur zwei Tage später erhält Betty North einen Anruf von der „Laurentide“: Richard ist über Bord gegangen, die Suche nach ihm wurde in der eiskalten Beringsee eingestellt!

Autor Nick Dybek hat mit „Der Himmel über Greene Harbor“ ein beachtenswertes Romandebüt geschrieben, dessen Stärke die atmosphärisch dichten Schilderungen sind. Man riecht das Meer, schmeckt das Salz auf den Lippen und spürt den Wind in den Haaren, wenn der junge Autor (geboren 1980) von dem Leben auf der Insel erzählt, das von den Frauen geprägt wird, die sich mit der monatelangen Abwesenheit ihrer Männer arrangieren müssen, und heranwachsenden Kindern, die ihren Vätern fast fremd sind und sie kaum kennen. Loyalty Island ist eine fiktive Insel, aber das Leben auf ihr ist ebenso real dargestellt wie es auf unzähligen anderen kleinen Inseln an der Nordostküste Amerikas stattfindet. Aus dem Namen der Insel lässt sich „Loyalität“ herauslesen, tatsächlich das tragende Thema dieses interessanten Romans und für Nick Dybek scheinbar so wichtig, dass er sich diese Bezeichnung ausgedacht hat.

Der Konflikt, den Nick Dybek seinen jungen Protagonisten aussetzt, ist glaubwürdig und nachvollziehbar. Cal ist ein Junge, der seinen Vater bewundert, vielleicht sogar idealisiert, weil er wie so viele andere Väter aus beruflichen Grünen kaum zuhause ist. Zuerst kommt Cal mit der ungewohnten Situation kaum klar, da Betty North ebenfalls wie seine Mutter stark unter der Abwesenheit des Ehemanns und Vaters leidet. Mit dem gleichaltrigen Jamie, der nun sein Zimmer mit Cal teilen muss, will er eigentlich gar nichts zu tun haben. Es dauert lange, bis sich die beiden Jungen freundschaftlich annähern. Cal fühlt sich von seiner Mutter verlassen und lehnt jeden Kontakt mit ihr ab, beantwortet die Anrufe seiner Mutter bei den Norths einfach nicht, bis sie ganz ausbleiben. Und dann quält Cal ständig der Gedanke an das belauschte Gespräch seines Vaters mit den anderen Fischern: Ist sein eigener Vater wirklich fähig, einen Mord zu begehen?

Nick Dybek erzählt einfühlsam über die Fragen und Konflikte, die innerhalb einer Familie aber auch innerhalb einer Gesellschaft, wie die auf der kleinen Insel, aufgeworfen werden. Da geht es um Loyalität und die Angst, die Entscheidungen seiner Eltern in Frage zu stellen. Es geht um Geheimnisse und Verschwiegenheit, um Unausgesprochenes und den Lernprozess jedes Heranwachsenden, eigene Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen. Das alles spielt vor der wunderbaren Kulisse des Meeres und dem Leben auf der Insel. Die Beschreibungen sind so detailliert, als wäre Nick Dybek selbst in dieser Gegend aufgewachsen. Doch der Autor stammt nicht von der Küste, sondern wuchs in Michigan auf. Umso beeindruckender ist die Tiefe und Authentizität seiner Schilderungen, vor allem zum Krabbenfang und dem harten Leben an Bord eines Kutters, die alleine auf der hervorragenden Recherche des Autors basieren.

Eine gewichtige Rolle in „Der Himmel über Greene Harbor“ spielt auch die Schallplattensammlung von Cals Mutter. Da bedauert man es fast, dass dem Buch nicht eine CD mit allen Titeln, die in dem Roman genannt werden, beiliegt. Offenbar war die umfangreiche Plattensammlung der eigenen Eltern prägend für Nick Dybek, wie er in einem Interview erwähnt. Und Nick Dybek bezieht sich in seinen Schilderungen immer wieder auf den Literaturklassiker „Die Schatzinsel“ von Robert Louis Stevenson, was sich auch im Originaltitel seines Romans „When Captain Flint Was Still a Good Man“ widerspiegelt.

Nick Dybek ist ein beeindruckender Erzähler, der den Leser mit wunderschönen Sätzen wie „Ihre Haut war gerötet und rau, ihr Gesichtsausdruck so leer wie das Foyer eines verlassenes Theaters“ oder „Tragödien verwandeln sich mit zunehmendem Alter in Komödien und sterben ab, wenn die Witze nicht mehr komisch sind“ zu beglücken weiß, was auch der brillanten Übersetzung aus dem Amerikanischen von Frank Fingerhuth zu verdanken ist. Auf den letzten 100 Seiten wird die Spannung des Romans fast unerträglich, die Ereignisse in „Der Himmel über Greene Harbor“ überschlagen sich und man kann das Buch kaum aus der Hand legen.

Allein waren das Leben an Land und auf See unerträglich, aber jedes von beiden war das Gegenmittel für das Gift des anderen“ – der Roman „Der Himmel über Greene Harbor“ ist für alle Väter und Söhne sowie für alle, die der Rauheit des Meeres etwas Schönes abgewinnen können, wirklich wunderbar und lesenswert!

© Steffani Lehmann von Literaturtipp.com


Nick Dybek
Der Himmel über Greene Harbor
Aus dem Amerikanischen von Frank Fingerhuth
mareverlag, Hamburg
ISBN 978-3-86648-160-2
1. Auflage 2013, 320 Seiten, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen, Format 13 x 21 cm.
Preis: € 19,90 (D) / € 20,50 (A) / sFr 28,50



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